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Begegnung mit meinem Lebensretter

Das Foto zeigt mich mit meiner Lebensgefährtin Sonja, deren schnelle Reaktion mir vermutlich das erste Mal das Leben gerettet hat: Sie hatte sofort den Rettungsdienst alarmiert, als ich beim Training im Fitness-Studio in Wien am Zugturm zusammengebrochen war. Nur die wenigsten Betroffenen mit einem Aortenriss erreichen die Klinik noch lebend. Trotzdem standen meine Chancen nicht gut, als ich endlich auf den Operationstisch lag: Die Ärzte hatten ein schweres Stück Arbeit mit mir.
Es war ein merkwürdiges Gefühl, als ich Monate nach meiner Entlassung aus dem Krankenhaus im Klinikum St. Pölten in Österreich auf den Chirurgen wartete, der mich operiert hatte.
Nach einigen Minuten betritt ein junger Mann den hellen, nüchtern eingerichteten Raum, stellt sich als Dr. Oliver Bernecker vor, nimmt mir gegenüber am Tisch Platz und bittet mich um etwas Geduld. Er telefoniert für einen Moment. Kurz darauf erscheint etwa ein halbes Dutzend Leute in typischen Krankenhauskitteln. Wortlos mustern sie mich kurz, aber eingehend, tauschen einige Blicke mit Dr. Bernecker aus, nicken mir dezent zu und gehen wieder. Wie ich gleich erfahren soll, waren es die Angehörigen des OP-Teams, das eine Nacht lang um mein Leben gekämpft hatte. Dr. Bernecker und ich sitzen uns wieder allein gegenüber. Er schweigt noch einen Moment, schaut mir dann ins Gesicht und spricht einen Satz aus, den ich wohl so schnell nicht vergessen werde: „Dass Sie jetzt so vor mir sitzen, brauche ich als Motivation für die nächste Operation!“
Dr. Bernecker berichtet über die Ereignisse in jener denkwürdigen Märznacht des Jahres 2017, als mich der Rettungshubschrauber bei ihm eingeliefert hatte. Er legt mir eine Kunststoff-Aorta vor, baugleich mit dem Implantat, das er mir in einer über achtstündigen nächtlichen Operation in den Brustkorb montiert hat. Dann zeichnet er mir auf einem Bogen Papier den Verlauf der Aorta auf, der Hauptschlagader des Herzens, und er erklärt mir, an welcher Stelle das mir eingesetzte Implantat beginnt, wo es endet und welche Blutgefäße er an welcher Stelle annähen musste, um das Ganze zum Funktionieren zu bringen. Ich wusste bereits, dass es nicht auf Anhieb funktioniert hatte. Das hatten mir meine Tochter erzählt, als aus dem Koma aufgewacht war.
Mit Sicherheit weiß ich aber, dass ich aus eigenem Erleben gar nichts weiß. Schließlich war ich bewusstlos während meines letzten Aufenthaltes in diesen heiligen Hallen. Und um ein Haar tot. Als nämlich die Blutungen an den immer wieder aufreißenden Nähten scheinbar überhaupt nicht mehr aufhören wollten, muss es einen Moment der Resignation bei Dr. Bernecker und seinem Team gegeben haben. Für einen Augenblick schien alles vorbei zu sein. Abflug ins Nirwana oder wohin auch immer! Einer der Monitore, die nun abgeschaltet werden sollten, zeigte wohl aber überraschenderweise noch Herztätigkeit, mit der Folge, dass Dr. Bernecker die bereits abgestreiften OP-Handschuhe wieder anzog und weitermachte, wo er aufgehört hatte.
Eine Operation wie die an mir, so berichtete mir Dr. Bernecker, schaffe er für gewöhnlich höchstens einmal im Monat, weil sie sowohl physisch als auch psychisch überaus belastend für alle Beteiligten sei.
Die österreichischen Spezialisten hatten nach Mitternacht bis in die Morgenstunden des folgenden Tages am OP-Tisch einen zeitweilig recht aussichtslos wirkenden Kampf um den Fortbestand meiner irdischen Ossi-Existenz geführt. Man hatte mich in Vollnarkose versetzt, meine Körpertemperatur zum Schutz des Gehirns heruntergefahren, mir den Brustkorb aufgesägt, meine Blutgefäße an eine externe Herz-Lungen-Maschine angeschlossen, meine Aorta bis zum Aortenbogen herausgeschnitten, an ihrer Stelle das Implantat eingesetzt und die von der Aorta in Richtung Kopf und rechter Arm abzweigenden Blutgefäße an dieses Implantat angenäht.
Lange lebte ich anschließend in dem Glauben, dass es erst während der Operation zum Schlaganfall gekommen sei. Inzwischen bin ich mir jedoch sicher, dass ich schon mit dem Schlaganfall eingeliefert worden war. Denn eine Aortendissektion verursacht nicht unbedingt eine Ohnmacht, ein heftiger Schlaganfall indes schon. Ein heftiger Schlaganfall kann selbst einen Hünen umbringen oder ihn von einem Moment auf den anderen in ein hilfloses, sabberndes Häufchen Elend verwandeln.
Wie heftig mein Schlaganfall war, vermochte niemand einzuschätzen. Genau das hatte die Sache so kompliziert gemacht. Seine große Angst, so erzählte mir Dr. Bernecker ganz offen, sei es stets, dass ein Patient eine Operation wie jene an mir zwar überlebe, dann aber für den Rest seiner Tage in körperlich und geistig äußerst desolatem Zustand als Pflegefall dahindämmere.
Davon war ich weit entfernt. Dass ich seinen Ausführungen ebenso konzentriert wie interessiert zu folgen vermochte und schon bald anfing, Fragen zu stellen, baute Dr. Bernecker sichtlich auf. Das Gespräch wurde lockerer. Er erzählte mir von seiner früheren Laufbahn als Leistungssportler. Schnell begriff ich, dass ich es mit einem jener Mediziner zu tun hatte, die auch die Sportwissenschaft als wissenschaftliches Arbeitsfeld ernst nehmen.
In krassem Unterschied zu dem, was ich nach meiner Rückkehr aus Österreich in deutschen Arztpraxen zu hören bekam, riet mir Dr. Bernecker keineswegs davon ab, weiterhin Bodybuilding zu treiben. Er warnte mich allerdings vor starker Pressatmung beim Training, weil sie die Nähte meines Implantats reißen lassen könnte. Im Interesse der Stabilität dieser OP-Nähte riet er mir ausdrücklich von Sportarten ab, bei denen es infolge von Stürzen, Stößen oder Schlägen auf den Körper zu plötzlichen Blutdruckspitzen kommen kann – also zum Beispiel Abfahrtsski, Fußball oder Kampfsport.
Meine Erleichterung war grenzenlos. Ausgerechnet der Mann, der mir schon einmal das Leben gerettet hatte, rettete es mir jetzt auf gewisse Weise ein zweites Mal, indem er mir Entwarnung gab für etwas, was ich ohnehin längst wieder begonnen hatte: mein Training! Fortan ging ich mit weniger Todesangst ans Eisen.
Als ich einige Jahre später ausgerechnet in St. Pölten bei einem Bodybuilding-Wettkampf des österreichischen Bodybuildingverbandes NPC Austria auf der Bühne stand, nahm Dr. Bernecker sogar meine Einladung an, sich vor Ort anzusehen, was ihm in seiner März-Nachtschicht gelungen war. Dummerweise musste sich seine Tochter ausgerechnet an jenem Tag den Kopf blutig schlagen, sodass er mich anrief und sich wegen Vaterpflichten entschuldigte. Auch so kann ein Arzt-Patienten-Verhältnis aussehen! Der St. Pöltener Herzchirurg Dr. Bernecker ist Sonjas und mein Held bis zum heutigen Tag.
Bild: S. Fiala